Künstliche Intelligenz ist der nächste grosse Sprung in der digitalen Evolution. Wer sich nicht damit beschäftigt, sieht bald aus wie eine Pferdekutsche neben einem Rennwagen. Das steht für Boris Eckstein ausser Zweifel. Im Experteninterview mit unserer Redakteurin Franziska Plesske geht der erfahrene Interim Manager für digitale Innovationsprojekte auf die Anfänge von KI ein und zeigt, wie Unternehmen Künstliche Intelligenz mithilfe eines MVP-Ansatzes samt Build-Measure-Learn-Cycle gewinnbringend einsetzen können – Praxisbeispiele inklusive.
Herr Eckstein, seit dem Launch von ChatGPT ist Künstliche Intelligenz in aller Munde und der KI-Hype nahezu omnipräsent. Dabei sind Künstliche Intelligenz und KI-Anwendungen gar nicht so neu wie viele vielleicht denken mögen. Ist das alles nur alter Wein in neuen Schläuchen?
Boris Eckstein: Es ist überraschend, wie weit die Anfänge von Künstlicher Intelligenz zurückreichen. Schon vor mehr als 100 Jahren – also lange vor der Erfindung des ersten Computers – gab es faszinierende Ansätze. Googlen Sie beispielsweise mal „El Ajedrecista“, zu Deutsch: „Der Schachspieler“, eine elektromechanische Maschine, die rudimentär Schachspielen konnte. Künstliche neuronale Netze wurden bereits in den 1940er Jahren beschrieben, der bekannte Turing-Test stammt aus den 50ern und ELIZA, die Vorreiterin für Chatbots schlechthin, erblickte 1966 das Licht der Welt.
Das Thema Künstliche Intelligenz hat sich über viele Jahrzehnte hinweg weiterentwickelt. Doch erst jetzt haben wir die nötigen technischen Voraussetzungen, um KI entsprechend leistungsstark zu machen. So etwas wie Large Language Models (LLMs), die auf künstlichen neuronalen Netzen und Vektordatenbanken basieren und mit Hochleistungsprozessoren sowie den Inhalten von Millionen an Webseiten trainiert werden – das ist funktions- und leistungstechnisch ein gigantischer Unterschied zu den Chatbots oder virtuellen Sprachassistenten, wie wir sie noch vor wenigen Jahren gesehen haben. Insofern bricht mit GenAI-Technologien definitiv ein neues Kapitel im Bereich der Künstlichen Intelligenz an.
Neue KI-Lösungen spriessen in immer kürzer werdenden Abständen aus dem Boden und entwickeln sich rasant weiter. Warum sollten, nein, müssen sich Unternehmen mit dem Thema Künstliche Intelligenz auseinandersetzen?
BE: Ganz einfach: Es führt kein Weg daran vorbei. Schauen Sie 20 oder 25 Jahre zurück. Da haben sich Unternehmen gefragt, warum sie ins Internet sollen und wofür sie eine Website brauchen. Heute ist es unvorstellbar, nicht alle wesentlichen Geschäftsprozesse digitalisiert zu haben. Selbst Firmen, die keine digitalen Produkte oder Dienstleistungen erstellen oder ihren Absatz nicht überwiegend online machen, verstehen sich in gewisser Weise als Softwareunternehmen. Denken Sie nur an die Supermarktketten oder Automobilhersteller.
Künstliche Intelligenz ist der nächste logische Evolutionsschritt, nein Evolutionssprung. Sie wird die digitale Leistungsfähigkeit enorm erhöhen, die Prozessautomatisierung vorantreiben, bestehende Geschäftsmodelle verändern und neue hervorbringen. Generative KI kommt nicht, sie ist schon da. Und sie ist mit enormen Erfolgen produktiv im Einsatz – im B2B ebenso wie im B2C. In der AWS-Cloud programmiert der „Amazon CodeWhisperer“ mit, KI-basierte Bildbearbeitung ist in den neuen Google Smartphones für jedermann verfügbar und der „Copilot“ in Microsofts Bing-Suche liefert Suchergebnisse natürlichsprachlich zusammengefasst. Wer diese Entwicklung nicht mitgeht, sieht bald aus wie eine Pferdekutsche neben einem Rennwagen.
Lassen Sie uns konkret werden. Wie können Unternehmen KI gewinnbringend einsetzen und wie sollten sie dabei vorgehen?
BE: Was ich jetzt sage, klingt vielleicht banal. Aber in der Praxis ist das oft gar nicht so einfach. Mit oder ohne KI: In erster Linie geht es darum, einen funktionierenden Business-Case zu entwickeln. Das beinhaltet die folgenden drei Aspekte:
- Er muss Business Value schaffen.
- Er muss User Value hervorbringen.
- Er muss machbar sein – insbesondere technisch, aber auch organisatorisch.
Der Weg dorthin führt – und auch das ist nicht neu – über ein sogenanntes Minimal Viable Product (MVP), das wiederum in einen Build-Measure-Learn-Cycle eingebunden sein sollte. Bei einem MVP handelt es sich um eine erste funktionsfähige Iteration eines Produkts. Sinn und Zweck dessen ist, den Business-Case zu überprüfen und möglichst schnell daraus zu lernen. In der User Experience sagt man „Fail often, fail early“. „To fail“ bedeutet hier natürlich nicht zu scheitern, sondern zu lernen, Fehler möglichst früh zu erkennen und so ein immer besseres Produkt zu entwickeln. Gerade bei neuen Technologien ist ein solches Vorgehen Gold wert.
Können Sie Beispiele aus Ihrer Praxis nennen, bei denen Sie KI-Anwendungen erfolgreich implementiert haben? Und welcher Nutzen hat sich daraus für die Unternehmen ergeben?
BE: Bei einem Kabelnetzbetreiber habe ich einen Chatbot etabliert. Das Ziel war Kundencenter-Dienstleistungen zu automatisieren. Das ist ein gutes Beispiel für den beschrieben MVP-Ansatz: Wir haben Anwendungsfälle identifiziert, die einen wirtschaftlichen Nutzen bringen, eine Kundennutzen haben und einfach umzusetzen sind. Der erste Use-Case war schnell gefunden: Störungen. Fällt ein Internetknoten aus, schiessen die Anrufe im Kundencenter in die Höhe. Alle Kapazitäten werden auf einen Schlag gebunden. Die Kunden hängen dann lange in der Warteschleife und die gut ausgebildeten Call Center Agents führen hundertmal hintereinander das gleiche anspruchslose Gespräch – „Verstehe, Sie haben kein Internet. Wie ist denn bitte Ihre Adresse? Tut mir leid, da haben wir eine Störung. Darf ich Ihnen eine SMS schicken, wenn die Störung behoben ist. Tut uns leid, schönen Tag noch.“ Vorteilhaft war hier, dass das Unternehmen eine App im Einsatz hatte, die von den Kunden bereits rege genutzt wurde. So konnten wir den Chatbot nahtlos in einem etablierten Kanal einsetzen.
Darüber hinaus durfte ich bei einem Versanddienstleister die User Experience in einem KI-gestützten Ident-Verfahren entwickeln. Hier kamen die unterschiedlichste KI-Technologien zum Einsatz, unter anderem OCR (Optical Character Recognition) – also Zeichenerkennung –, eine Gesichtserkennung zur Überprüfung, ob der Mensch vor der Kamera mit dem Ausweisfoto identisch ist sowie ein „Liveness-Check“, der erkennt, ob vor der Kamera tatsächlich ein Mensch ist und nicht etwa nur ein Foto. Eine zentrale Herausforderung war hierbei, die neuen KI-Tools, die als Assistenz-Systeme für die Call Center Agents eingesetzt wurden, so zu gestalten, dass sie Prozesse beschleunigen und für mehr Sicherheit sorgen. Als UX-Experte kann ich Ihnen versichern, dass das Zusammenspiel von Mensch und KI nicht nur sehr spannend, sondern auch absolut geschäftskritisch ist.
Anfang des Jahres habe ich zudem selbst ein Seminar herausgegeben: „IT-Know-how für fachliche Führungskräfte“. Mit ChatGPT konnte ich unter anderem fast das komplette Glossar erstellen. Das hat den redaktionellen Aufwand enorm reduziert. Einige Lektionen habe ich mit einem Video-Avatar umgesetzt. Das hat noch nicht die Qualität eines menschlichen Presenters. Aber es ist akzeptabel und es senkt die Aufwände für die Videoproduktion auf einen Bruchteil.
Häufig fehlen Unternehmen schlichtweg die Kapazitäten, um derartig zukunftsgerichtete Projekte anzugehen. Dabei können KI-Lösungen, richtig eingeführt und eingesetzt, Ressourcen freimachen und die Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Wie können Interim Manager:innen hierbei unterstützen? Und was sind die Vorteile im Vergleich zu einer internen Umsetzung?
BE: Es sind ja nicht nur die Kapazitäten. Es geht darum in einem Unternehmen, strukturelle Veränderungen vorzunehmen. Solche Vorhaben lassen sich häufig leichter mit Externen umsetzen. Sie haben zum einen keine Abhängigkeiten mit einer bestehenden Position, zum anderen hegen sie keine womöglich konkurrierenden Karriereabsichten. Hinzu kommt, dass in Unternehmen häufig erst einmal Prozesse und Kompetenzen entwickelt werden müssen. Bei KI-Anwendungen, insbesondere bei GenAI-Technologien, geht es um ganze Prozessketten. Es gilt, Daten bereitzustellen, Modelle zu trainieren und zu aktualisieren. Zugleich muss eine permanente Qualitätskontrolle eingeführt, Sicherheitsmassnahmen müssen etabliert, die User Experience muss gemanagt werden. Und und und.
Interim Manager können hier helfen, indem sie fachliches und strukturelles Wissen mitbringen. Sie identifizieren relevante Business-Cases, bauen Strukturen auf und etablieren Prozesse. Kurzum: Interim Professionals bringen die Dinge zum Laufen, um sie dann in Linie zu überführen. Und dann können sie gehen, weil ihr Job gemacht ist. Und der Ehrlichkeit halber: Mit Interim Managern verringert man auch das unternehmerische Risiko, also die Gefahr einer Fehlinvestition. Denn im Fall eines Scheiterns sind Externe problemlos zu kündigen – ganz im Gegenteil zu Festangestellten.
Ehrliche Worte! Gibt es abschliessend noch etwas, das Sie Unternehmen mit auf den Weg geben möchten, die gerade erst anfangen, sich mit dem Thema KI zu beschäftigen?
BE: Mein Appell an Unternehmen: Neues ausprobieren und dabei eine ehrliche Lernbereitschaft an den Tag legen! Suchen Sie einfache Use-Cases für KI, bringen Sie diese auf den Weg und schauen Sie, wo die Potenziale liegen. Wenn die Dinge nicht so funktionieren, wie man gedacht hat, hat man nicht versagt. Versagt hat man nur dann, wenn man nichts daraus lernt.
Herr Eckstein, vielen Dank für das interessante Gespräch und die persönlichen Einblicke!
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